Osttangentenblues

Bei einem Besuch in einem Weinlokal im Darmstädter Martinsviertel habe ich sie wieder für mich entdeckt, die Langspielplatte “Osttangenten Blues”. Sie steht auf dem Foto ganz oben in der Mitte des Regals. 

Die LP ist 1978 entstanden und wurde meines Wissens im Selbstverlag erstellt und finanziert. Die LP hat eine eigene Geschichte und einen ganz konkreten Bezug zum Martinsviertel in Darmstadt.

Mir wurde damals ein handsignierte Version durch eine der Interpretinnen (Charlotte Richter-Abraham) ausgehändigt, die ich bis heute hoch in Ehren halte.

Hier der Hintergrund:
Darmstadt ist die Pendlerhauptstadt Deutschlands. Auf 160.000 Einwohner kommen etwa 100.000 Pendler.  Diese wollen für ihre täglichen Fahrten natürlich schnelle und bequeme Zugänge zu ihren Arbeitsplätzen in der Stadt und freie Parkmöglichkeiten sowieso. Dem gegenüber brauchen  die Menschen,  die hier leben,  eine lebenswerte Stadt und wollen nicht neben einer Autobahn oder auf einem Parkplatz leben. In diesem Spannungsfeld wurde 1972 ein Beschluss der Stadtverordnetenversammlung (CDU 50,4 %, SPD 36,3 %, FDP 10,7 %, WGD/Grüne “noch” 0 %,) zugunsten der Pendler gefasst, es sollte eine 4 spurige Stadtautobahn quer durch eine Bresche geführt werden, die in die Bebauung der Stadt geschlagen werden sollte.

Die Wählergemeinschaft Darmstadt (WGD) gab es im Zeitpunkt des Stadtverordnetenbeschlusses zur Osttangente noch nicht, diese entstand erst Mitte der 70er Jahre (sicher auch als Folge der geplanten Osttangente) und erlangte große politische Bedeutung.  Sie fusionierte später mit den Darmstädter Grünen.

Interessant ist sicherlich die Frage, wie die politische Landschaft in Darmstadt ausgesehen hätte und aussehen würde, wenn es dieses Projekt gegen die Osttangente nicht gegeben hätte.

Foto Eigentum und mit freundlicher Genehmigung  Stadtarchiv Darmstadt

Wer sich den Wahnwitz dieses Planes visualisieren möchte, braucht sich nur die Alsfelder Straße bis zum Rhönring zu betrachten, dieser Bauabschnitt wurde nämlich bereits erstellt und endet am Rhönring.

Diese Stadtautobahn wäre quer durch das Martinsviertel und durch große Teile der restlichen Stadt  (über die Teichhausstraße (Finanzamt), Pfützerstraße, Nieder-Ramstädter-Straße)  geführt worden.  Alle Häuser, die der Stadtautobahn im Wege gestanden hätten, sollten abgerissen werden.

Aus Darmstadt wären zwei Städte geworden, die durch einen unüberwindlichen Todesstreifen getrennt worden wären. Der letzte Charme Darmstadts, einer Stadt, deren Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg sowieso bereits zu 78 % durch einen Bombenangriff zerstört worden war, wäre vollends verloren gegangen. Foto Eigentum und mit freundlicher Genehmigung  Stadtarchiv Darmstadt

Aufgrund massiver Protestes der Bevölkerung  und der Bildung einer Wählergemeinschaft (WGD), die aus dem Stand heraus in das Stadtparlament einzog und starken politischen Einfluss ausübte, wurde 1980 der Plan durch einen neuerlichen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung wieder aufgegeben.

Heute erinnert nur noch  das “Autobahnmuseum Alsfelder Straße”, die Weinstube Osttangente, sowie die bis heute starke Präsenz der Grünen im Stadtparlament und natürlich die Langspielplatte “Osttangentenblues” an diese Zeit, die für das Schicksal Darmstadts so bedeutend gewesen ist.

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